A Quarter Past Perfect
(Times of Love #1)
Leseprobe
Kapitel 1 – Ivy
Gegenwart
Stöhnend zerrte ich einen der Umzugskartons von der Rückbank. Scheiße, ich hatte die Dinger viel zu voll gepackt. Ich konnte nur hoffen, dass mir keiner auf dem Weg in die Wohnung im ersten Stock aufging und meine Sachen im Treppenhaus verteilte.
Mit einem letzten, tiefen Atemzug raffte ich mich auf und ging mit dem schweren Karton in den Armen die wenigen Stufen hinauf zu dem Haus, das mein neues Zuhause sein würde.
Beim Blick auf die beiden Türschilder neben der Klingel runzelte ich die Stirn. Das eine Namensschild war sorgsam mit dem Namen ›Patterson‹ beschriftet, das andere schien das genaue Gegenteil zu sein. Es waren mehrere Namen aufgeführt, manche wieder durchgestrichen, teilweise so lieblos, dass die anderen übermalt und mit einem Edding nachgezogen worden waren. Kurz: Es sah genauso chaotisch aus, wie ich es bei einer WG voller Jungs, die sich für Erwachsene hielten, erwartet hatte.
Seufzend drückte ich mit dem Ellenbogen gegen den kleinen Klingelknopf unter dem Namensschild und wartete.
Und wartete.
Nach ein paar Minuten drückte ich den Knopf erneut, diesmal beharrlicher. Nichts rührte sich.
Irritiert runzelte ich die Stirn und stellte den Karton ab, um auf mein Handy zu sehen. Uhrzeit und Datum stimmten, genauso wie die Namen - zumindest, soweit ich es erkennen konnte. Carter, Mitchell, Turner und irgendetwas mit W. Whitman vielleicht. Walker. Oder Webster. Aber wenn ich hier richtig war, warum schien dann niemand zu Hause zu sein?
In dem Moment ertönte aus einem geöffneten Fenster weiter oben ein brüllender Triumphschrei, der mich zusammenfahren ließ. Einen Augenblick später hörte ich endlich das Summen des Türöffners.
Hastig schnappte ich mir wieder den Karton und stieß die schwere Eingangstür auf. Das Haus stand im Kern der Stadt und war damit einer der vielen Altbauten, die hier die Straßen säumten. Reihenhäuser, die mit roten Klinkersteinen verputzt waren, jedes mit ein paar Treppenstufen und einem Messinggeländer, die zu den Haustüren hinaufführten. Ich hatte die Straßen in diesem Ort schon immer geliebt, aber jetzt hier zu stehen, hatte einen bitteren Nachgeschmack. Es erschien mir wie ein Rückschritt und Fortschritt zugleich, dorthin zurückzukehren, wo alles angefangen hatte. Aber Dr. Hill hatte gesagt, es würde mir helfen, wieder in einer gewohnten Umgebung zu sein und in der Vergangenheit waren ihre Ratschläge hilfreich gewesen, also hatte ich auf sie gehört.
Die Häuser hatten einen besonderen Charme von außen, doch als ich das Treppenhaus von meinem zukünftigen Zuhause betrat, stellte ich überrascht fest, dass das Innere kaum noch mit der äußeren Hülle zu vergleichen war. Während von außen deutlich sichtbar war, dass das Haus wie alle in dieser Straße etwa Mitte des 19. Jahrhunderts erbaut worden war - eines der Dinge, auf der an der Delbrook High besonders viel Wert gelegt wurde, war die lokale Stadtgeschichte -, sah man innen, dass das Haus vor nicht allzu langer Zeit renoviert und modernisiert worden war. Das Treppenhaus war sauber und in schwarz-weiß gehalten. Von der Haustür aus ging der Flur ein kleines Stück geradeaus bis zu einer einzelnen Wohnungstür, die ebenfalls schwarz gestrichen war. Von meinem Bruder Patrick wusste ich, dass dort eine ältere Dame wohnte, die zwar einen Enkel hatte, der gelegentlich zu Besuch kam, sonst allerdings meistens für sich blieb.
Ansonsten war das Treppenhaus leer. Mein Ziel lag ein Stockwerk höher, mit den weißgestrichenen Stufen als einzigem Weg hinauf.
Von weiter oben hörte ich zwar Stimmen, aber niemand schien näherzukommen, um mir beim Tragen zu helfen, also machte ich mich daran, den Karton selbst die Treppenstufen nach oben zu schleppen. Immerhin würden meine Bücher nicht von allein ins Zimmer fliegen. Als ich auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks ankam, verfluchte ich mich für die Tatsache, dass ich so viele davon besaß. Und noch mehr verfluchte ich die Tatsache, dass ich mich überhaupt von Patrick und Dr. Hill dazu hatte überreden lassen, hierherzuziehen. Warum hatte ich nicht darauf bestanden, mir eine eigene Wohnung zu suchen?
Ich hatte bereits jetzt das Gefühl, dass es eine absolute Schnapsidee war, in diese WG zu ziehen.
Auch hier im ersten Stock gab es nur eine Wohnungstür - ebenfalls schwarz lackiert, ansonsten aber ohne Schnörkel oder andere Verzierungen, und einem Türspion auf Augenhöhe - und diese stand schon offen, als ich oben ankam. Gott sei Dank, dachte ich mürrisch. Ich konnte es kaum erwarten, endlich meinen eigenen Schlüssel zu bekommen, damit ich nicht mehr auf die Gnade spätpubertärer Jungs angewiesen war.
Okay, das war gemein. Ich kannte die vier noch nicht persönlich und wusste außerdem, dass sie die besten Freunde meines Bruders waren, also konnten sie so schlecht nicht sein. Aber ich wollte nicht hier sein, verdammt nochmal. Selbst nach den Monaten, die vergangen waren, fühlte sich mein Leben noch absolut surreal an. Als hätte jemand mitten in einem Film das Drehbuch gewechselt.
Aber dennoch sollte ich den vieren zumindest eine Chance geben, sonst würde sich das Zusammenleben nur noch unangenehmer gestalten, als ich es mir ohnehin schon vorstellte. Denn - mal ehrlich? Vier Jungs, ein Mädchen und - zumindest soweit ich wusste - nur ein Badezimmer? Das konnte nur schief gehen. Selbst bei zwei Badezimmern konnte ich mir die täglichen Dramen bildlich vorstellen.
Seufzend schüttelte ich den Kopf. Ich hatte schon immer ein Händchen dafür gehabt, mir Dinge bereits im Vorhinein schlecht zu reden. Es brachte nichts, sich jetzt Gedanken darüber zu machen, was möglicherweise passieren könnte - es war ja noch nichts geschehen. Ich hatte einen Plan und an dem würde ich festhalten.
Diese Gedanken beschäftigten mich, während ich den Umzugskarton durch die offene Wohnungstür bugsierte und ihn ächzend abstellte. Dann sah ich mich um. Von der Eingangstür gelangte man sofort in ein riesiges Wohnzimmer, das mit einer großzügigen Couchlandschaft in dunklem Rot ausgestattet war, die zum Entspannen einlud. Mit Halbwänden abgetrennt lag links neben dem Eingangsbereich eine moderne Küche, die ich mir unbedingt näher ansehen wollte, sobald ich mich halbwegs eingerichtet hatte. Es juckte mich in den Fingern, ein paar Muffins, Cupcakes oder einen Kuchen zur Einweihung zu backen.
Auf dem Sofa entdeckte ich zwei Jungs in meinem Alter, die in ein Rennspiel vertieft zu sein schienen. Der eine hatte einen dunkelbraunen, wilden Lockenschopf, der andere glatte Haare in einem helleren Farbton, die ihm platt auf dem Kopf lagen. Auf dem überdimensionalen Flachbildfernseher, der an der Wand hing, fuhren zwei Sportwagen in halsbrecherischer Geschwindigkeit nebeneinanderher und es war offensichtlich, dass beide das Spiel gleich gut - oder gleich schlecht - beherrschten. Außerdem fluchten beide sehr laut und ausdauernd.
Für einen Moment konnte ich nichts tun, als da zu stehen und mich zu fragen, ob das zukünftig mein Leben sein würde. Ich als Hausfrau und Mutterersatz, während auf dem Sofa ein bis vier junge Männer saßen und sich vergnügten. Scharf atmete ich ein. Ganz sicher nicht.
»Hallo!«, rief ich laut und ließ die Tür hinter mir zufallen. Das schreckte zumindest einen der beiden auf, wodurch dessen Fahrzeug prompt von der Fahrbahn abkam. Er fluchte erneut laut, während der andere lachte und den Vorsprung nutzte, um vor seinem Gegenspieler ins Ziel zu rasen.
»Gewonnen! Schon wieder, ha!«, brüllte er triumphierend und ich erkannte denselben Ruf, den ich schon von draußen vernommen hatte. Kein Wunder, dass mir niemand gleich die Tür geöffnet hatte, geschweige denn mir geholfen hatte, die Kartons hochzutragen.
»Nur weil ich abgelenkt war«, brummte der Verlierer, schien aber nicht allzu verstimmt zu sein. Stattdessen warf er den Controller zur Seite und sprang behände über die Rückenlehne der Couch, um auf mich zuzukommen.
Ich musterte ihn neugierig. Kurz vor meinem Einzug hatte mein Bruder mir ein Bild von einem Roadtrip geschickt, den er und drei der vier Jungs im vorletzten Sommer gemacht hatten. Das war kurz bevor er mit seiner Freundin zusammengezogen war, quasi als Abschiedstour quer durch die nördlichen Staaten der USA, gewesen. Von diesem Foto erkannte ich die beiden wieder. Nicht nur aufgrund ihrer Haare, auch anhand ihres Körperbaus konnte ich sie deutlich voneinander unterscheiden. Der mit den glatten Haaren, der gerade auf mich zukam, musste Finn sein, der muskulöse Körperbau ließ sein größtes Hobby - Fußball - eindeutig erkennen. Meine Heimat Old Delbrook lag soweit im Norden der Vereinigten Staaten, dass es sozusagen nur einen Katzensprung von Kanada entfernt war. Entsprechend viele Eigenheiten der Kanadier hatten die Einwohner übernommen. Diese verrückte Leidenschaft für Fußball war nur eine von vielen. Es gab am hiesigen College sogar ein ziemlich gutes Team, zu dem Finn und Dylan, einer der anderen Jungs, gehörten.
»Du musst Ivy sein!«, begrüßte mich der Sportler grinsend und hielt mir die Hand hin, in die ich zögerlich einschlug.
»Die bin ich«, erwiderte ich.
»Super, dass du hier bist«, meinte der andere Junge mit dem Lockenhaar, während er im Gegensatz zu seinem Mitbewohner um die Couch herumging und ebenfalls zu uns stieß. »Nachdem Patrick ausgezogen ist, mussten wir seinen Anteil aufsplitten, aber es ist gut, wenn wir wieder zu fünft sind. Ich bin übrigens Maximilian, aber nenn mich ruhig Maxi, das tun eh alle. Und das hier ist Finn.« Er schlug seinem Kumpel auf die Schulter und ich nickte ihm zu.
»Ähm …«, begann ich, unsicher, wie ich meine Bitte formulieren sollte. Einerseits war mir klar, dass ich den Umzug kaum alleine schaffen würde, aber irgendwie fühlte ich mich unwohl, direkt am ersten Tag zugeben zu müssen, dass ich Hilfe brauchte. Das war ohnehin etwas, das ich in den letzten Wochen und Monaten erst wieder von Grund auf hatte lernen müssen. »Ich stehe mit dem Umzugswagen vor der Tür, ich hoffe das ist in Ordnung«, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.
»Oh, sicher«, beruhigte mich Finn und schnappte sich gleich darauf den Karton, den ich neben der Tür abgestellt hatte. »Das ist deiner, oder? Ich bring ihn schnell hoch in dein Zimmer. Komm doch gerade mit, dann kann ich dir zeigen, wo alles ist!« Überrascht und dankbar zugleich, folgte ich ihm. Er brachte mich zu einer Treppe, die in den oberen Stock führte und in eine Nische in der Ecke eingelassen war, sodass man sie nicht gleich sah, wenn man die Wohnung betrat.
»Ich muss gleich weg, aber ich hol dir noch eine Kiste aus dem Auto, bevor ich gehe!«, rief Maxi hinter uns und ich musste lächeln. Vielleicht würde die Zeit hier in Old Delbrook doch nicht so furchtbar werden.
* * *
Die ganze Wohnung war unglaublich, befand ich, während ich Finn durch das obere Stockwerk folgte. Von außen hätte ich es kaum vermutet, aber dort waren fünf enorme Schlafzimmer sowie ein großes Badezimmer untergebracht. Im unteren das riesige Wohnzimmer, in dem auch ein Tischkicker stand, die phänomenale Küche und ein kleineres Gästebad, in dem es immerhin eine zweite Dusche gab. So oder so würde Gedränge herrschen, was die Badezimmer anging. Ob es so etwas wie einen Badezimmerplan gab? Sicherlich würde es immer wieder Tage geben, an denen jemand verschlief oder etwas Dringendes dazwischenkam, aber das Grundproblem könnte damit gelöst werden. Ich nahm mir vor, das Thema während der Führung irgendwie zur Sprache zu bringen. Das Einzige, das es in der Wohnung nicht gab, war ein Esstisch. Stattdessen gab es eine längere Theke, die Küche und Wohnzimmer voneinander trennte. Ich vermutete aber, dass selbst diese nur selten genutzt wurde, so beladen mit Post und Unterlagen wie sie war.
Trotz der überraschenden Weitläufigkeit der Wohnung fühlte ich mich wohl. Auch wenn es nicht viel Deko-Artikel gab, vermittelten die gemütlichen Möbel ein heimeliges Gefühl und luden zum Verweilen ein, was mir guttat. Ich hatte erwartet, dass es mehr wie eine Junggesellen-Bude aussehen würde, mit zusammengewürfelten Stilrichtungen. Wenn es nur nach der Wohnung ginge, könnte ich mir hier durchaus vorstellen, eine Weile hierzubleiben und mich nicht gleich nach etwas Eigenem umzusehen.
Als ich an Finn vorbei in das große Badezimmer im ersten Stock lugte, war ich nicht überrascht, wie chaotisch es aussah. Das Waschbecken und der Spiegel waren von Zahnpasta-Flecken übersät und der Duschvorhang hatte schon bessere Tage gesehen. Zumindest die Toilette war halbwegs sauber, auch wenn die Klobrille hochgeklappt war und das Klopapier auf dem Waschbeckenrand stand, anstatt in der dafür vorgesehenen Halterung zu stecken.
»Sag mal«, begann ich vorsichtig, unsicher, wie ich meine Frage formulieren sollte, ohne ihn zu beleidigen. »Habt ihr … so was wie einen … Putzplan?« Das klang vernünftig. Nach einer normalen Frage, die man stellte, wenn man in eine WG zog.
Finn runzelte die Stirn. »Einen Putzplan?«, fragte er verständnislos.
»Na ja, du weißt schon … Montags machst du das Bad, dienstags macht Maxi die Küche …«
Finn blinzelte.
»Das ist dann wohl ein Nein?«
»Sorry«, erwiderte er und grinste entschuldigend. Dabei fuhr er sich mit der Hand über den kurzen Haaransatz im Nacken.
»Schon okay«, sagte ich und warf einen letzten Blick auf das Badezimmer. Dann würde ich das wohl in die Hand nehmen müssen.
Maxi hatte sich während der Führung verabschiedet und nun wandte sich auch Finn mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck mir zu. »Ich habe leider gleich Training, deshalb muss ich dich auch allein lassen, aber Dylan hilft dir, sobald er vom Joggen zurückkommt!«, versprach er. Es gab noch einen vierten Mitbewohner, aber ich fragte nicht nach ihm. Die Jungs hatten genau gewusst, wann ich ankommen sollte, und wenn sie nicht hier waren, würden sie einen Grund dafür haben. Ich nickte nur.
»Kein Problem, ich krieg das allein hin«, erklärte ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte. So oder so würde ich nicht um Hilfe betteln. Es war demütigend genug, dass ich hier war. Man sollte meinen, dass eine Studentin, die seit ihrem dreizehnten Lebensjahr auf eigenen Beinen stehen musste, sich selbst eine Wohnung und den Umzug organisieren konnte. Stattdessen hatte ich bei jedem meiner Schritte Hilfe gebraucht und war nur dank der Großzügigkeit der Freunde meines Bruders hier gelandet. Nein, ich benötigte niemanden, der mir noch mehr abnahm. Zumindest redete ich mir das erfolgreich ein.
Finn grinste erleichtert, klopfte mir unbeholfen auf die Schulter und verabschiedete sich dann ebenfalls, bevor er die Treppen nach unten joggte. Ich folgte ihm etwas langsamer und blieb vor dem vollgeladenen Kleintransporter stehen, der mein Hab und Gut beinhaltete. Das Zimmer war mit einem Bett, Schrank und einem Schreibtisch versehen, also befanden sich in dem Auto lediglich die Umzugskisten. Dennoch würde ich zu einem Möbelmarkt fahren müssen, um mir noch ein paar Kleinigkeiten zuzulegen.
* * *
Ich wollte gerade die nächste Umzugskiste aus dem Wagen heben, als ich hinter mir ein dröhnendes Motorengeräusch hörte. Irritiert wandte ich den Kopf, um den Fahrer wütend anzufunkeln. Doch ich musste feststellen, dass das Auto – ein superteurer Sportwagen, der im Stadtverkehr völlig unnötig war – einen scharfen Schlenker machte und auf den letzten freien Parkplatz vor dem Haus zuhielt, direkt hinter meinem Transporter. Geistesgegenwärtig tat ich einen Sprung auf den Bordstein, ehe das Fahrzeug wenige Zentimeter vor der offenen Hecktür meines Mietwagens zum Stehen kam.
Wütend schnappte ich nach Luft. Was für ein Vollidiot war das denn? Ich wollte ihm gerade die Meinung sagen, als der Typ aus dem Auto stieg und ich zu einer Salzsäule erstarrte.
Ich kannte ihn. Ich kannte ihn sogar sehr gut. Er schloss die Tür hinter sich und eilte zu seiner Stoßstange, um den Abstand zu beurteilen.
»Fuck, sorry, das war keine …« Er brach mitten im Satz ab, als er den Kopf hob und holte zischend Luft. Seine Miene verhärtete sich. »Ivy.«
»Raphael«, erwiderte ich tonlos. Sonst sagten wir nichts, starrten einander nur an.
Er war größer als in meiner Erinnerung. Bei unserer letzten Begegnung hatte er schlaksig und ungelenk gewirkt, aber in der Zwischenzeit musste er angefangen haben, regelmäßig zu trainieren, denn das graue Shirt unter seiner schwarzen Lederjacke umspannte seine Brustmuskeln, ohne zu eng zu wirken. Seine Beine steckten in dunklen Jeans, die gerade so viele Risse hatten, dass es gewollt aussah.
Als mein Blick an seinem Körper nach oben wanderte, zuckte ich unter seiner intensiven Musterung zusammen. Doch selbst das hielt mich nicht davon ab, seinen Anblick in mich aufzusaugen. Seine dunklen Haare hatte er an den Seiten kurz schneiden lassen, nur oben waren sie lang genug, sodass ich die leichte Naturwelle sah. Er trug einen gepflegten Dreitagebart. Und die Brille, die ihn früher immer wie einen kleinen Nerd hatte aussehen lassen, war verschwunden.
Irritiert versuchte ich, dieses neue Bild mit meiner Erinnerung von Raphael in Einklang zu bringen, doch es gelang mir nicht.
In dem Moment erinnerte ich mich an das Namensschild neben der Klingel. Das W stand für White. Natürlich. Aber wie hätte ich damit rechnen können? Mein Bruder hatte nie auch nur mit einem Wort erwähnt, dass er jahrelang mit Raphael zusammengewohnt hatte. Obwohl ich die Vermutung hatte, dass er es mir aus Rücksicht verschwiegen hatte, nahm ich ihm das übel. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich ihm definitiv sagen, was ich von derartigen Überraschungen hielt. Als er mir den Platz in seiner alten WG angeboten hatte, war ich zu sehr mit den Nerven am Ende gewesen, als dass ich hätte ablehnen können. Obwohl ich mit dem Gedanken gespielt hatte, mir etwas Eigenes zu suchen, war ich froh gewesen, so schnell eine Übergangslösung gefunden zu haben und aus Detroit wegzukommen. Nun allerdings wünschte ich mir zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag, ich hätte nicht zugestimmt. Raphael so unerwartet gegenüberzustehen, löste etwas in mir aus und ich war mir nicht sicher, ob es mir gefiel.
Die Wut, die ich in den ersten Sekunden empfunden hatte, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Übrig blieb eine merkwürdige Wärme, die sich in meinem ganzen Körper ausbreitete und sich in meiner Brust zu einem Knoten verfestigte. Ich verstand nicht einmal den Grund dafür. So hatte ich früher nie auf Raphael reagiert. Damals hatte ich zwar auch intensiv für ihn empfunden, keine Frage, aber er war auch mein bester Freund gewesen. Und so etwas wie das war mir noch nie passiert. Nicht einmal bei …
Unser Blickkontakt und damit auch meine Gedanken, die sich in eine völlig falsche Richtung bewegten, wurde unterbrochen, als auf der Beifahrerseite seines Wagens eine junge Frau ausstieg. Sie passte mit ihren platinblonden Locken, dem stark geschminkten Gesicht und dem ultrakurzen Kleid perfekt zu diesem neuen, mir fast gänzlich unbekanntem Raphael. Allerdings stellte sie eine derart hochnäsige Miene zur Schau, dass ich sie von vornherein nicht leiden konnte. Als sie gleich darauf ihren Mund öffnete, verstärkte sich das Gefühl nur noch.
»Raph-Raph, warum redest du mit dieser … Person?«, fragte sie und prompt zuckten meine Mundwinkel, obwohl ich vermutlich beleidigt hätte sein sollen. Raph-Raph? War das ihr verdammter Ernst? Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Immerhin schien Raph-Raph den Spitznamen auch nicht sonderlich gut zu finden, denn er runzelte kurz verärgert die Stirn. Aber er wies sie nicht zurecht. Na ja, jedem das Seine. Ich jedenfalls würde ein Veto einlegen, sollte jemand auf die Idee kommen, mich Vy-Vy zu nennen. Lautstark. Vor anderen Menschen, die ich von früher kannte. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken.
»Diese … Person …«, begann ich schließlich, als Raph-Raph keine Anstalten machte, eine Antwort zu geben, »… ist seine neue Mitbewohnerin und würde es wirklich begrüßen, wenn du deine Luxuskarre ein paar Zentimeter weiter hinten parken könntest.« Den zweiten Teil des Satzes richtete ich an Raphael, der mich immer noch schweigend anstarrte.
»Kein Problem«, sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken und öffnete abrupt die Autotür.
»Da…« Danke, wollte ich sagen, doch als ich sah, wie er den Motor anließ und sein Auto wortwörtlich nur zwei Zentimeter rückwärts rollen ließ, blieb mir das Wort im Hals stecken. Mistkerl.
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Sie war seine Ewigkeit – er nur ein Augenblick.
Ivy Johnsons Leben steht Kopf, als sie in ihre Heimatstadt Old Delbrook zurückkehrt. Sie hat es endlich geschafft, die toxische Beziehung und ihren Ex-Freund hinter sich zu lassen und ist bereit für einen Neuanfang. Dass sie ab sofort in einer WG mit vier Jungs leben wird, war dabei nicht vorgesehen – und doch freut sich Ivy auf ihre neu gewonnene Freiheit.
Bis sie am ersten Tag Raphael begegnet. Raphael, der früher Ivys bester Freund gewesen ist und viele Geheimnisse mitgenommen hat, als er nach dem High School Abschluss einfach aus ihrem Leben verschwunden ist. Raphael, der heute nichts mehr mit dem schüchternen, sensiblen Jungen gemeinsam hat, den sie einmal gekannt hat. Als wäre das nicht genug, entpuppt er sich auch noch als einer ihrer WG-Mitbewohner. Doch kann es überhaupt gut gehen, wenn Vergangenheit und Gegenwart Tür an Tür unter einem Dach leben?
Ivy muss schnell feststellen, dass Raphaels Nähe mehr in ihr aufreißt als nur unausgesprochene Fragen und alte Wunden. Und auch Raphael weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis seine wahren Gefühle und die Dämonen der Vergangenheit ans Licht kommen ...